März 2022
Laura Arrighi
Die Galleria Nazionale
Cristiana Collu, Leiterin der Galleria Nazionale d'Arte Moderna e Contemporanea, denkt über die Konzepte von „Fürsorge“, Gastfreundlichkeit und dem Verhältnis zwischen Kunst und Design nach.
2016 hat die Galleria Nazionale d'Arte Moderna e Contemporanea in Rom unter der Leitung von Cristiana Collu mit einer völlig neuen Zusammenstellung und Kunstauffassung wiedereröffnet. Zu den revolutionärsten Initiativen der Leiterin zählte definitiv die Ausstellung time is out of joint, die eine weitreichende Debatte über die Überwindung traditioneller Ausstellungskonzepte eröffnet hat. Angefangen mit The Lasting sind es Reflexionen über die Zeit, die einem chronologischen Fluss folgt, zugunsten eines Modells, das auf der Idee basiert, dass die Zeit „wieder zusammengefügt werden muss“, dass sie „wieder auf eine gerade Linie gebracht werden muss“; eine Richtung, die in der Ausstellung in einer symbiotischen Koexistenz neue unerwartete Verbindungen im symbolischen Raum des Museums miteinander verknüpft. Diese Beziehungen folgen nicht den orthodoxen und festgelegten Regeln der zeitlichen Abfolge und der (Kunst-)geschichte, sondern sie bewegen sich frei und losgelöst in einer Art Anarchie, die nichts mit Unordnung zu tun hat, sondern die sich an etwas anderem orientiert, das vor jeder Regel und Norm kommt. Aber die Idee von Veränderung und „Fürsorge“ hat auch die Umgestaltung des Museums geleitet. In der ersten Zeit als Direktorin hat Collu am Museum als Gebäude gearbeitet ohne dabei verwaltungstechnische und organisatorische Aspekte außer Acht zu lassen, und dabei das Ausstellungsprogramm mit den Bedürfnissen, die ein gewollt breiteres Publikum mit sich bringt, vereint. Der Eingriff am Gebäude betraf die Entfernung verschiedener Schichten und überflüssiger Elemente, Folgeeingriffe, die die Rundgänge Galleria Nazionale verändeten. Er hat auch den zentralen Trakt betroffen, wo zwei Seitenhöfee als Gärten nutzbar gemacht wurden, die Sala delle Colonne und die neue Konzeption des Monumentaleingangs. „Eine Art Maßnahme, die sich aus einem Subtraktionsverfahren ergibt. Wie ein Musikstück volltaktig oder auftaktig ist, so ist diese Maßnahme auftaktig, eine Art Nachschlag, eine Subtraktion, wie bei einer archäologischen Ausgrabung, um an die Quelle zu kommen. Ich habe versucht an diese ursprünglichen Anordnung, die Architektur dieses Orts, zu gelangen. Ich tat nichts anderes als seine Architektur ans Licht zu bringen. Dazu kommt ein zeitgenössisches Konzept der Gastfreundlichkeit: die Besucher fühlen sich willkommen. Es ist ein Ort, der nicht sofort zum Kauf einer Eintrittskarte zwingt, er drängt sich nicht auf, sondern man kommt herein und begreift intuitiv, wie man ihn nutzen kann. Eine Art Filter, der einen verstehen lässt, dass man bleiben darf, dass man nicht einfach durch ein Museum läuft sondern dass man es vorübergehend bewohnt.
Cristiana Collu war früher Direktorin des Mart (2011 - 2015) und des MAN in Nuoro (1999 – 2011). Sie saß 2019 in der Jury bei der 58. Biennale d‘arte von Venedig und war Teil der Arbeitsgruppe Donne per un nuovo Rinascimento (Frauen für eine neue Renaissance) und der Royal Commission for Riyadh City. Sie ist Mitglied des Comitato Scientifico della Collezione Farnesina (wissenschaftlicher Ausschuss für die Kollektion der Farnesina). Sie unterrichtete an verschiedenen Universitäten und besitzt einen Doktortitel in Museologie und Museographie. Edra Magazine hat sie eingeladen, um die Themen „Fürsorge“ und Gastfreundlichkeit in Museen sowie das Verhältnis zwischen Kunst und Design zu vertiefen.
„Wie ein Musikstück volltaktig oder auftaktig ist, so ist diese Maßnahme auftaktig, eine Art Nachschlag, eine Subtraktion, die einer archäologischen Grabung ähnelt, um an eine Quelle zu kommen. Ich strebte nach dieser Art ursprünglichen Anordnung, jener Architektur des Orts. Mein ganzes Schaffen besteht darin, Architektur ans Licht zu bringen."
Cristiana Collu
Welcher Geist und welche Vision hat Sie bei der Direktion der Galleria Nazionale d’Arte Moderna e Contemporanea geleitet? Wie hat sich Ihrer Meinung nach heute die Tätigkeit eines Museumskurators verändert?
Der Satz Action speaks louder lag mir schon immer besonders am Herzen, es ist meine Art, Worte in Einklang mit meinem Handeln zu bringen, zu interpretieren und eine Vision bewusst umzusetzen und das zwangsläufig nur teilweise, um eine Art Wahrheit ans Licht zu bringen, die nur durch das Erforschen und Experimentieren herausgefunden werden, indem man Risiken eingeht und Verantwortung übernimmt. Diese Position schafft einen Spielraum für Dialog und Dialektik innerhalb von dem, was sich heute als einer der letzten nicht-virtuellen Orte versteht. Dieser Ort bietet die Möglichkeit der Teilnahme und des Teilens, eine kollektive Stimme, die auf Gemeinschaft verweist. Ich kenne persönlich keinen anderen Weg, etwas zu unserer Gegenwart beizutragen, als in ihr zu sein, und dabei nicht nur Schritt zu halten, sondern den Schritt zu bestimmen. Ich fing bei der Architektur und dem Licht an. Ich habe versucht, die Seele dieses Ortes wieder zu finden, und von dort habe ich angefangen, eine neue Möglichkeit für die Sammlung und das Ausstellungsprogramm der Galleria Nazionale aufzuzeichnen. Ich habe unorthodoxe, losgelöste und in gewissem Maße anarchische Beziehungen eingesetzt, im Einklang mit einer gewissen weiblichen Tradition, die nichts mit Chaos zu tun hat, sondern mit etwas, das vor Normen und Regeln kommt und das viel Raum für Vorstellungskraft und Intuition lässt. Das erzählt die Galerie ihrem Publikum und ich habe den Eindruck, dass sich beide gut verstehen. Die Menschen besitzen ein unglaubliches Feingefühl und Sachkenntnis im Hinblick auf Orte und ihre Energiefrequenzen. Sich willkommen und wohl zu fühlen ist ein fragiles System aus Beziehungen.
In den letzten Jahren hat die Galleria Nazionale unter Ihrer Leitung ihre Aufmerksamkeit auf die Frauen gelenkt. Können Sie uns ganz kurz die wichtigsten Initiativen und Ausstellungen erläutern?
Blicke sind immer auf etwas gerichtet und gehen von einem Menschen aus, der an einer bestimmten Stelle steht. Es gibt keine Blicke ohne Richtungen und keine Richtungen ohne Relationen. Ich mag Hexen, schreckliche, ungehorsame und kompromisslose Mädchen, die an ihren Träumen festhalten, die sich abheben und vorausschauend handeln. Ich denke, wir müssen noch enorm viel tun, aus diesem Grund hat die Galleria Nazionale seit 2015 den Fokus auf Frauen gelegt, im Bewusstsein, dass wir uns vielen Fragen stellen müssen, die alle einen gemeinsamen Nenner haben: die Ungleichheit. Die Entwicklung einer modernen Museumswissenschaft sollte allerdings auch viele andere Themen miteinbeziehen, wie die zur Geschlechtergleichstellung, Macht, Familie, Arbeit, Umwelt und Nachhaltigkeit. Wir müssen uns der Tatsache bewusst sein, dass es bei einem heiklen Thema eventuell unmöglich ist, es unpersönlich und nicht ideologisch zu behandeln, und, dass es notwendig ist, sich die Hände schmutzig zu machen, um darüber sprechen und die Dinge verändern zu können. Aber worüber ich mir sicher bin, ist, dass mir die aktuelle Version der Welt nicht gefällt, und dass ich alles in meiner Macht stehende tun will, um eine andere zu konstruieren. Anfang 2021 hat die Ausstellung Io dico io – I say die Notwendigkeit hervorgehoben, dass Frauen von sich selbst in der ersten Person Singular sprechen und ihre eigene Subjektivität geltend machen müssen, um Stereotype zu bekämpfen und den eigenen Weg immer wieder zu verändern. Die Ausstellung Cosmowomen. Places as Constellation bringt eine architektonische Revolution, eine politische Vision und ein ökologisches Denken voran. Das erreicht sie durch die monumentalen und bildschöpferischen Darstellungen von echten Sternbildern der Sinne, die grenzenlose Räume symbolisieren.
Das zeitgenössische Design, dessen Exempel Edra statuiert, hat mit dieser neuen Art ein Museum zu besuchen, Persönlichkeit, ein Projekt, Farbe eingebracht. Etwas das nicht nur mit Komfort und Familiärem, Heimeligen verbunden ist, sondern gleichzeitig mit etwas mehr, das nicht unbedingt notwendig aber völlig essentiell ist: Luxus
Cristiana Collu
Das Design hat einen festen Platz in die Galleria Nazionale gefunden, zum Beispiel dank der Ausstellung On Flower Power, mit Marti Guixé als Kurator, aber auch im Zuge eines neuen Konzepts der Gastfreundlichkeit innerhalb von Museen und Einrichtungen.
Auch die Einrichtung der Buchläden, Rezeptionen und Cafeterien wurden Guixé anvertraut. Warum und wie wird heutzutage die Verbindung zwischen Kunst und Design valorisiert?
Die Idee für ein Projekt liegt jeder Vision zugrunde. Dank meiner glücklichen und langjährigen Zusammenarbeit mit Marti Guixé, einem out-of-joint-Designer und Visionär hatte ich die Chance, viele Aspekte einer faszinierenden Welt zu erforschen, die ständig versucht, eine gewisse Idee von Schönheit mit Zweckmäßigkeit und Nutzen, mit Freude und Respektlosigkeit, mit Risiko und Ehrfurcht, kurz gesagt, mit Vernunft in Einklang zu bringen. Diese Vision ist zum Herzstück meiner Arbeit geworden, eine Schlüssel, mit dem ich komplexe, aber auch flexible, instinktive und immer breitangelegte Maßnahmen im Museum durchführen konnte.
On Flower Power hat diese Vereinbarkeit offenbart und hat die Forschung in ihrem Schaffen gezeigt, sowie die Intuition für etwas, das man nicht so leicht fassen kann, die heuristische Vorgehensweise und die „zufällige Erkenntnis“. Als wäre das, was in einem Museumssaal ausgestellt wird, noch im Werden, noch ausstehend, ohne Klassifikationen.
Edra ist Partner der Galleria Nazionale. Heute heißen die Stühle Gilda B und das Sofa Flap die Gäste in den Sälen willkommen. Sie haben die Kollektionen für Fotoshootings empfangen und Produkte für einige Ausstattungen verwendet. Können Sie uns Ihre Meinung zum Unternehmen geben?
Edra ist eine bildschöpferische Welt, dessen Wurzeln in der italienischen Kultur, in der fachgerechten Ausführung, in der Tradition des Designs und in seiner Verwobenheit zwischen Kunst, Architektur, Natur und Landschaft, verankert sind. Deshalb waren Monica und ich immer sofort auf einer Wellenlänge ohne große Vorrede
Design-Sitzmöglichkeiten haben irgendwann die Museen gefüllt und haben oftmals nur vorübergehend manchmal aber auch vollständig die traditionellen Bänke, die oftmals gar nicht für die Betrachtung der Bilder da waren, sondern einfach nur zum Ausruhen, verdrängt, da der wachsende Besucherandrang vor den Werken sie für den ursprünglichen Zweck unnützlich machte. Das zeitgenössische Design, dessen Exempel Edra statuiert, hat mit dieser neuen Art ein Museum zu besuchen, Persönlichkeit, ein Projekt, Farbe eingebracht. Etwas das nicht nur mit Komfort und Familiärem, Heimeligen verbunden ist, sondern gleichzeitig mit etwas mehr, das nicht unbedingt notwendig aber völlig essentiell ist: Luxus. Eine spielerische Form eine unerwartete Weichheit, eine Einladung noch im Museum zu verweilen, und wenn auch nur um das Dasein in diesem unglaublichen Kontext zu betrachten und sich nicht nur aufgehoben zu fühlen, sondern als Teil von ihm. Genau das wollte ich in den Museen, die ich geleitet habe, und diesen Weg hat Edra mit mir geteilt und mich sogar anlässlich der schwierigsten Ausstellungen, wie La Guerra che verrà non è la prima im Mart von Rovereto, als Bezugspunkt in der Ausstellung Perduti nel paessaggio im Mart, und schließlich in der Galleria Nazionale, in dieser außerordentlichen Time is Out of Joint, begleitet
Laura Arrighi Architektin, Forschungsdoktorat, Webwriter und Freelance Editor. Sie beschäftigt sich vorwiegend mit Interieur, Design und Mode, mit einem besonderen Interesse für das Phänomen der Hybriden der verschiedenen Bereiche. Sie widmet sich: dem Schreiben, der Recherche, Didaktik, und arbeitet mit verschiedenen Institutionen und einigen bedeutenden, italienischen Architekturstudios zusammen. Photo: Pietro Savorelli |