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Oktober 2023

FOCUS
Words
Maurizio Corrado

Jenseits der Vision

Ich schreibe an einem Tag Mitte Mai 2023. Es ist der Zeitpunkt, an man sich im globalen Dorf - von dem McLuhan in den 1960er Jahren sprach -  unserer Einheit auf dem Planeten bewusst geworden ist, zurück schaut und bemerkt, dass wir uns in der Zukunft befinden. Die Zukunft hat sich geändert. Um eine konkrete Entwicklung des eigenen Unternehmens zu erreichen, muss man sich mit der Realität des Anthropozäns auseinandersetzen, und hier kommen die Visionäre ins Spiel. Es gibt eine Fähigkeit, die uns bisher vor den Veränderungen und Krisen, die wir als Spezies durchgehen mussten, gerettet hat. Das ist das Imaginäre, eine Fähigkeit, dank der wir uns Geräte - vom Hubschrauber bis zum Shuttle - vorstellen und dann realisieren konnten. Heute ist es diese Fähigkeit, die wir brauchen, um unsere Vorstellungskraft zu nutzen und Visionen zu entwickeln. Der Designer muss notwendigerweise ein Visionär sein, er hat die berufliche Aufgabe, sich die Zukunft vorzustellen, und Vorstellen heißt Gestalten. Diese Gewohnheit, über die Zukunft nachzudenken, bringt die Arbeit des Designers näher an die Tätigkeit des Visionärs, man könnte sogar meinen, sie ist eine Variante davon. Dem reinen Visionär geht es nicht um die Verwirklichung seiner Vision, für den Designer hingegen ist sie das Ziel aber beide haben die Vision als Ausgangspunkt gemeinsam. Nehmen wir die Geschichte des Imaginären in der Projektvorstellung.  
Ein berühmtes Gemälde mit dem Titel Die ideale Stadt, das von einem unbekannten Autor stammt, aber auch Piero della Francesca zugeschrieben wird, ist aus dem Ende des 15. Jahrhunderts und repräsentiert zum einen die neue Entdeckung der Perspektive in der Malerei und zum anderen das Erscheinungsbild, das man sich von idealen Städten vorstellt: Harmonie, Perfektion, Symmetrie herrschen vor. Was auffällt und im Lichte der Entwicklungen in der modernen Architektur aufschlussreich wird, ist die Abwesenheit des Menschen. Der Mensch kommt in dieser Vollkommenheit nicht vor, ebenso wenig wie in den Idealvorstellungen der modernen Architektur des 20. Jahrhunderts, die ebenfalls auf Platons Ideen zurückgreift.

Ein offensichtliches Beispiel dafür ist das Haus, das Mies Van der Rhoe 1951 in der Nähe von Chicago für Edith Farnsworth, seine Geliebte, errichten ließ, die ihn, nachdem sie dort gewohnt hatte, nicht nur verließ, sondern vor Gericht zog. Rein, sauber, scheinbar über dem Boden schwebend, zweifelsohne eines der ästhetischen Meisterwerke von Mies Van Der Rhoe. Achteinhalb mal dreiundzwanzig Meter groß, auf Piloten gestützt, die inneren Funktionen auf das Wesentliche reduziert und in einem mit hellem Holz verkleideten, ansonsten völlig transparenten Körper umhüllt. Märchenhaft, wenn bloß auch die Bewohner transparent wären. Doch Edith ist es nicht und will unbedingt wenigstens Vorhänge. Sie behauptet, das Haus sei im Sommer viel zu warm und im Winter viel zu kalt und werde sogar von Mücken befallen. Natürlich kann nichts die Reinheit des Werkes berühren, schon gar nicht der unangenehme Umstand, dass jemand darin wohnen könnte. Mies lehnte die Vorhänge und jede Veränderung verächtlich ab und landete vor Gericht. Seitdem ist es eines der beliebtesten und von Architekten auf tragische Weise meist nachgeahmten Häuser.
Im Jahr 1516 veröffentlichte Thomas Morus das Buch Libellus vere aureus, nec minus salutaris quam festivus de optimo rei publicae statu, deque nova insula Utopia, das wir alle als Utopia kennen. Das große Verdienst von Morus bestand darin, das richtige Wort gefunden zu haben, um das zu definieren, was in den Köpfen der Renaissance schon seit geraumer Zeit herumschwirrte, und damit den Grundstein für eine fruchtbare Entwicklung eines Bereichs der Vorstellungskraft zu legen, der seither nie erloschen ist und weiterhin Auswirkungen hat. In der Tat und abgesehen vom Werk selbst, in dem eine Insel beschrieben wird, auf der die Menschen sechs Stunden am Tag arbeiten und auf der es weder Geld noch Privateigentum gibt, ist es die Idee des idealen Ortes, die in der entstehenden modernen westlichen Welt Wurzeln schlägt.

Im Jahr 1602 schrieb der Dominikaner Tommaso Campanella das Werk Der Sonnenstaat in der florentinischen Volkssprache, das später, 1623, ins Lateinische übersetzt wurde. Der Sonnenstaat liegt auf einem uneinnehmbaren Hügel, ist kreisförmig und wird von einer riesigen Mauer verteidigt, die sich in der Nähe des zentralen Tempels spiralförmig nach unten windet und sieben Kreise bildet, vier Tore hat, die in die vier Himmelsrichtungen zeigen und wo sich in der Mitte der Sonnentempel mit kreisförmigem Grundriss befindet. Eines der Merkmale ist, dass die Bewohner die Gemeinschaft von Gütern und Frauen praktizieren. Wenn man die schematischen Darstellungen dieser idealen Städte liest und sieht, fühlt man sich unweigerlich an die geometrische Konstruktion erinnert, die Dantes Göttlicher Komödie zugrunde liegt. 
Die Saat, die von den beiden Thomas - Morus und Campanella - gesät wurde, fiel in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf fruchtbaren Boden, als die Erfordernisse des aufkommenden Industriesystems die Städte ein für alle Mal veränderten. Es bestand ein Bedarf an starken Ideen, und eine Generation neuer Utopisten griff auf die alten Texte zurück, um eine neue Vorstellung von der Stadt zu entwickeln und die Gartenstadtbewegung in Gang zu setzen; sie hießen Robert Owen, Claude Henri de Saint-Simon und Charles Fourier. Von Letzterem gab Calvino 1971 die „Theorie der vier Bewegungen“ in einer schönen Ausgabe heraus. Im Werk Aus der neuen Liebenswelt, privilegiert Calvino den Visionär Fourier, der eine Gesellschaft bis ins kleinste Detail erfindet, in der seine skandalösen Sexualtheorien Weiten eröffnen und Orte zum Leben erwecken, die seine Jünger zu verwirklichen versuchten. Was die Vorstellungskraft der Architekten am meisten beeinflusste, war sicherlich das Phalanstère, eine Struktur, in der 1.600 bis 2.000 Menschen in einer sozialistischen und autarken Gesellschaft zusammenleben, wie in einem modernen Einkaufszentrum, das sie nicht mehr zu verlassen brauchen.

1851 wurde in London die erste Weltausstellung eröffnet und ein Gärtner, Joseph Paxton, mit dem Bau des Hauptgebäudes beauftragt. Vielleicht ist nicht jedem bekannt, dass die moderne Architektur von einem Gärtner erfunden wurde. Paxton hatte 48 Jahre in den besten Gärten Englands verbracht, wo er sich den Ruf geschaffen hatte, nicht nur ein ausgezeichneter Kenner exotischer Pflanzen, sondern auch einer der fähigsten Gewächshausbauer zu sein. In jenem Jahr bot sich ihm die Chance seines Lebens: Er erhielt den Auftrag, das Gebäude zu entwerfen, in dem die Londoner Weltausstellung stattfinden sollte. Paxton ließ sich nicht zweimal darum bitten und setzte die Dinge im großen Stil um. Er entwarf und baute ein riesiges Gewächshaus mit einer Breite von 120 Metern und einer Länge von 562 Metern, ein kolossales Werk, dessen Besonderheit jedoch nicht in der Größe lag. Um es zu errichten, entwickelte er zum ersten Mal ein Vorfertigungssystem. So wurde der Kristallpalast zum wichtigsten Symbol der Funktionalität, die die moderne Bewegung einige Generationen später zu predigen begann.  
Von der Faszination für das Gewächshaus wurde auch der einzigartige polnische Schriftsteller, Paul Scheerbart getroffen. Das war einen Mann, der jede Form von Arbeit verabscheute, wenn sie nicht an einem Tisch stattfinden konnte, an dem man trinken und reden kann. Scheerbart veröffentlichte 1914 ein kleines Buch mit dem Titel Glasarchitektur, das so viele Architekten inspirierte. Der Kristallpalast hatte die Technik der Vorfertigung geliefert, jetzt lieferte die Glasarchitektur die Philosophie. Die Architektur muss gläsern, transparent sein, das Leben selbst muss transparent, leuchtend, fröhlich sein. 
Die 1960er Jahre eröffnen eine Zeit, in der alle Künste auf dem Höhepunkt sind und die Kontamination zum Schlagwort wird. In diesem Klima, in dem die Pop Art die Malerei beherrscht und Literatur und Kino ineinander übergehen, wird die Architekturkultur von Science-Fiction und Comics beeinflusst. Philip Dick schrieb in jenen Jahren Geschichten, die die gesamte zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts bis heute prägten. Die gesamte radikale Architekturbewegung der 1960er und 1970er Jahre ist tief in die Atmosphären eingetaucht, die durch Kino, Fernsehen und Comics wie Flash Gordon und Barbarella hervorgerufen wurden. Die Literatur, die die Architekten immer begleitet hat, ist die der Visionäre. Gian Piero Frassinelli verrät in seinem schönen Buch Design e Antropologia (Design und Anthropologie), dass zu Zeiten von Superstudio praktisch nur Science-Fiction-Bücher im Studio zirkulierten. Science-Fiction regt das Kino an, das Kino produziert Bilder und Bilder beeinflussen Architekten. Imaginäre Städte, phantastische Objekte sind eine unschätzbare Quelle für diejenigen, die wirklich die Zukunft bauen müssen, und Figuren wie Jules Verne, Herbert George Wells, Aldous Huxley, George Orwell und all ihre Nachfolger bilden ein potenzielles Ideenreservoir. Gerade in jenen Jahren wehte der Wind der Freiheit und der Revolution durch die Gesellschaft und natürlich auch durch die Welt der Architektur und des Designs. Superstudio, Archizoom, UFO, Gruppo 999 und all die anderen stellten sich andere mögliche Welten vor und säten Samen, die heute endlich erblüht sind und unsere Beziehung zu anderen Lebensformen betreffen oder die Aufmerksamkeit auf die Umwelt lenken.

Mitte der 1980er Jahre war es der Bolidismus, der sich von diesen Ideen inspirieren ließ. Die Bewegung nahm das Erbe des Futurismus auf und kombinierte es mit der amerikanischen Streamline. Sie stellte die vorherrschende Designästhetik des Jahrzehnts auf den Kopf und schlug eine Vision vor, die sich als prophetisch erweisen sollte. „Der Bolidist neigt zur Unbeweglichkeit und zur gleichzeitigen Anwesenheit an mehreren Orten“ und die Vision der fließenden Stadt, die als „eine Reihe von Kontakten ohne physische Grenzen“ definiert wird, sind eine genaue Beschreibung dessen, was heute mit Computern, Internet und Mobiltelefonen der Alltag eines jeden ist. Diese Fluidität, von der Bauman in Bezug auf die Gesellschaft sprach, wird in dem Möbelprojekt symbolisch durch die Dynamik der Formen von Edra's Tatlin dargestellt, das 1989 von Roberto Semprini, einem Vertreter der Bolidistischen Bewegung, zusammen mit Mario Cananzi entworfen wurde.
In den darauf folgenden Jahrzehnten haben die von der Radikalen Architektur eingeschlagenen Wege zu einigen der interessantesten Vorschläge in der Welt des Designs geführt. Massimo Morozzi, eine der Seelen von Archizoom, hat jahrelang im Designsystem gearbeitet, neue Designer in der ganzen Welt aufgespürt und sie dazu angeregt, einige der interessantesten und innovativsten Projekte zu realisieren, die zu echten Ikonen geworden sind. Insbesondere fand seine Arbeit als Art Director in der Firma Edra das richtige Terrain für die Saat, die in den Jahren der Radikalen Architektur gesät wurde, um zu gedeihen, manchmal buchstäblich, wie bei den Projekten von Masanori Umeda. 
Die Welt der Architektur und des Designsystems wird sich bald mit einem wesentlichen Aspekt auseinandersetzen müssen: Die Veränderungen, die im Anthropozän herangereift sind, betreffen nicht nur Naturlandschaften und Städte. Buchstäblich alles ist im Wandel: die Wirtschaft, die Art und Weise, wie wir denken und Kultur machen, die Sicht auf die Welt und den Platz des Menschen im Kosmos selbst. Das Aufkommen des Imaginären im Anthropozän-Zeitalter hat die Zeit verändert und plötzlich alle Regeln und Szenarien, die wir bisher verwendet haben, obsolet gemacht. Früher oder später werden wir das zur Kenntnis nehmen müssen. Erst seit Beginn des neuen Jahrhunderts ist man sich einig, dass wir einen Planungsansatz brauchen, der die so genannten Auswirkungen auf die Umwelt mit einbezieht. Es stellt sich die Frage: Was soll das Design in den Zeiten des Anthropozäns tun? Heute müssen wir uns mit Imagination und Visionen Szenarien vorstellen und Antworten geben.

Maurizio Corrado

Corrado, Architekt und Kurator, beschäftigt sich seit den 1990er Jahren mit Projektökologie. Er hat für Zeitungen und das Fernsehen gearbeitet, Designprogramme für Canale 5 und SKY kuratiert, Ausstellungen und kulturelle Veranstaltungen organisiert, Serien, Magazine und Schulungseinrichtungen geleitet und über zwanzig Bücher über Design und ökologische Architektur veröffentlicht, mit Übersetzungen ins Französische und Spanische. Er leitete das italienisch-englische Magazin „Nemeton High Green Tech Magazine“ und lehrte an der Universität Camerino, Naba in Mailand und den Akademien der Schönen Künste in Bologna, Verona und Foggia. Mit dem Italienischen Kulturinstitut in Melbourne kuratiert er ein Projekt, das eine Ausschreibung des Außenministeriums für die Schaffung eines Festivals italienischer Kultur in Melbourne im Jahr 2023 gewonnen hat. Er schreibt Literatur und Theater.

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