November 2023
Nur eine "Richtung"
„Wenn man einmal die Ursprünge verstanden hat, wird einem auch die Richtung klar, die immer dieselbe geblieben ist", so stellte mir bei unserem Treffen Valerio Mazzei, der Präsident von Edra, das Unternehmen vor. So extrem diese Aussage auch klingen mag, beschreibt sie tatsächlich ein Gründungselement des Unternehmens. Es handelt sich um einen Leitfaden, der sich durch alle Entscheidungen hindurch zieht. Man könnte ihn auch als „Weg“ bezeichnen: ein von Erfolgen, Erkenntnissen, unschätzbaren Geschichten und Geschäftssinn gepflasterten Weg.
Er ist wie ein Leuchtturm, der als Wegweiser für die Kontinuität und Konkretheit von Unternehmensentscheidungen dient. Er basiert vor allem auf einer Reihe von Tugenden, die Edra von Anfang an ausgezeichnet haben, aber auch auf einem Bewusstsein, das in fast vierzig Jahren des Wachstums gereift ist. Es ist eine Geschichte, die auf den Begegnungen, dem Verständnis und den Träumen von Menschen beruht, die daran glaubten, dass ein kleines toskanisches Unternehmen sich schnell einen Namen auf internationaler Ebene schaffen kann.
Der Anfang
Am Abend des 11. Juli 1987 präsentierte Edra in der Galleria Marconi in Mailand vier Modelle, die von vier in der Designwelt unbekannten Namen entworfen worden waren: Maarten Kusters, Giorgio Ferrando, Clare Brass und Giovanni Levanti. Die Autoren von I Nuovissimi (die Neusten) wurden unter den Studenten der Domus Academy in Mailand ausgewählt. Sie debütierten zusammen mit Edra und schlugen die Sitze No stop, No step, No stalgia und No problem vor, vier „Negationen“, die durch den Wunsch vereint waren, eine neue Designvision auszudrücken. Edra wollte originelle Ideen zum Ausdruck bringen, die sich frei von Rum und Mode entfalten konnten.
Zaha Hadid war mit ihrer Kollektion eine weitere Bestätigung. Mit ihr hat das Unternehmen nur ein Jahr später einen weiteren Schritt nach vorne gemacht: sowohl in Bezug auf den semantischen Wert des neuen Projekts als auch auf die Komplexität der Umsetzung. Es war in der Tat notwendig, eine Synergie zwischen verschiedenen Branchen (Marine und Automobil) zu schaffen, fortschrittliche Technologien einzusetzen und die handwerklichen Fähigkeiten des Unternehmens optimal zu nutzen. Ein Engagement, das durch einen denkwürdigen Abend im Rolling Stones in Mailand gekrönt wurde.
Damals haben mehrere junge Absolventen von Architektur und Design ihre Ideen vorgetragen. Darunter auch Roberto Semprini und Mario Cananzi. In dem Buch True Stories con Edra (Wahre Geschichten mit Edra) erzählen die beiden Autoren, dass sie vor dem Interview die Skizze eines „Spiralsofas“ verloren hatten. Sie fanden sie im letzten Moment zerknüllt im Papierkorb wieder. Diese Zeichnung enthielt eine freie Interpretation des unvollendeten Denkmals von Vladimir Tatlin. Es war 1989 und der Edra-Stand war rot gefärbt: rot waren die Produkte, rot die Lichter und rot das Campari Soda-Getränk, das einzige, das serviert wurde. Tatlin wurde auf dem Salone del Mobile in Mailand in seinem roten Samtanzug präsentiert.
Sommer 1990
Da der Salone del Mobile 1990 nicht stattfand, beschloss Edra, einen gemeinsamen Moment mit Kunden und Presse zu organisieren und lud sie zu einem Urlaub im Club Mediterranée nach Hammamet, Tunesien, ein. Die Präsentation der Kollektion fand zur Überraschung der Gäste in den Mauern der Ribāṭ von Monastir statt. Die antike klosterartige Festung bot den perfekten Rahmen, um die Qualität der Modelle in dem stimmungsvollen Kontext der gleichfarbig eingerichteten und beleuchteten „Salonräume“ hervorzuheben. Die Initiative war ein Erfolg und noch heute erinnert man sich in Edra gerne an amüsante Anekdoten. So sammelte Masanori Umeda beispielsweise Amphoren aus dem Meer, mit denen die örtlichen Fischer Tintenfische fingen, und behauptete, antike Reliquien in Händen zu halten.
Kaum zurück in Italien, präsentierte Edra die Flowers Collection in Mailand auf der Rimessa Fiori. Ohne übermäßige Betonung wurden einfach Getsuen und Rose Chair in die Mitte des Aufbaus gestellt und bildeten bunte Blumenbeete. Die Atmosphäre war fast surreal. Die Blumen versetzten die verzauberten Besucher in den mondbeschienenen Garten, der Masanori zu seinem Entwurf inspiriert hatte.
Die Kollektionen
Edra hat bei seinen Präsentationen stets darauf geachtet, die Qualität der Modelle hervorzuheben. In den ersten Jahren des Salone del Mobile war der Stand monochrom. Die Entscheidung, das Äußere zu vereinheitlichen, führte zu einer stärkeren Konzentration auf die strukturellen Details der Produkte. „Farben, die durch Lichter in denselben Farbtönen hervorgehoben werden und dichte monochrome Ansammlungen bilden. […] Die integrale Farbgebung unterstreicht die formale Einzigartigkeit und gibt den Unterschieden ihre Homogenität zurück“, heißt es im Album 11 von Edra aus dem Jahr 2005.
Edra durchlief echte 'Jahreszeiten'. Gelb im Jahr '87, rot im Jahr '89... 1991 begrenzten blaue Samtvorhänge den Ausstellungsraum, und blaue Neonzeichnungen (von Guido Venturini) leuchteten im Halbdunkel wie die Straßenschilder von New Orleans und Las Vegas. Zu diesem Anlass wurde Blue Curaçao zu den Klängen von Blue Velvet serviert. 2001 war das Jahr der Pink Collection.
Dann kamen die „Transparenzen“, das Gold und Silber der „Metalle“, die Kontraste zwischen der Reinheit von Weiß und gesättigten Farben und die von der Natur inspirierten Ausstellungen wie „Das Aquarium“ (2004) oder „Historia Naturalis“ (2006). Dies sind nur einige der Etappen einer langen Reise, bevor man 2015 bei der Entmaterialisierung der Spiegel ankam: eine Idee von Valerio Mazzei, die zu einem Erkennungsmerkmal des Edra-Ausstellungsmodells geworden ist und seit 2017 auf dem Spazio Edra angewendet wird.
Maßgeschneiderte Kleidung
Die Polsterung ist ein grundlegender Bestandteil der Sitzmöbel und ein integraler Bestandteil des Designs: sowohl in Bezug auf die Qualität als auch auf ihren künstlerischen Wert. Jede Polsterung ist immer das Ergebnis von Forschung, sowohl konzeptionell als auch technologisch. Wie zum Beispiel die Verwendung von technischen Textilien aus anderen Bereichen, die von Edra angepasst und für die Einrichtung auf innovative Weise präsentiert werden.
Monica Mazzei, Vizepräsidentin von Edra, war schon immer an der Auswahl und Entwicklung von Originaltextilien beteiligt. Diese ermöglichen es, die Identität des Modells bestmöglich zum Ausdruck zu bringen und, wenn nötig, eine Verbindung mit dem Kontext herzustellen. In den ersten Jahren wurde die Harmonie im Ausstellungsraum vor allem durch das Studium von Textilienfamilien hergestellt. Sie wurden in Farb- und Landschaftsthemen unterteilt, wie z. B. „Grotta Azzurra“ oder „New York“. Dies war ein anderer Ansatz als heute, entsprach aber den thematischen Präsentationen der damaligen Zeit.
Die entworfenen Textilien, wie „Nuvole“ für Standard oder die Gobelinstickerei für Sfatto, wurden auf einem Jacquard-Webstuhl hergestellt. Bei extrem komplizierten Designs wie „Skykiss“ für Flap und „Odalisque“ für Sherazade wird noch immer die alte Technik der Tapisserie verwendet. Bei den Designstoffen ist die Auswahl noch sorgfältiger, vor allem bei den seltenen Fällen von bedruckten Stoffen. Im Jahr 2001 wurden drei unveröffentlichte Entwürfe von Ken Scott, dem in den 1960er und 1970er Jahren berühmten „Fashion-Gärtner“, ausgewählt und exklusiv für Edra gedruckt. Die harmonischen Farben seiner Blumenkompositionen stellen eine sentimentale Verbindung zu der Kollektion her, die durch den Exzess die gleiche Energie der Pop- und New-Age-Zeit vermittelt.
Polka Dots
Unsere Textilien mit dem Polka Dots-Muster von Massimo Morozzi hat die Geschichte des Unternehmens Mitte der 1990er Jahre am meisten geprägt. Der damalige künstlerische Leiter von Edra hatte die Faszination des Punktes wiederentdeckt, der, wie Marco Senaldi im Edra-Katalog von 1995 schrieb, „eine geometrische Figur ohne Teile oder Dimensionen und somit 'Ausgangspunkt' und gleichzeitig 'Ankunftspunkt'“ ist. Das Polka-Dot-Muster, das in der Mode der 1950er und 1960er Jahre und in der Pop Art verwendet wurde, bekam für Edra einen neuen konzeptionellen Wert. Es handelt sich nicht um ein einfaches Finish, wie Massimo Morozzi schreibt, sondern um eine Textur, die die Oberflächen durchbricht. Die Polka Dots ermöglichten es, den Raum nach Belieben zu abstrahieren, Dynamik und Gleichförmigkeit zugleich zu schaffen. Es blieb während der gesamten 1990er Jahre ein charakteristisches Merkmal der Kollektion, so dass es nicht nur in Morozzis Gemälden (die oft in den Einrichtungsgegenständen zu finden sind), sondern auch in Pressemitteilungen, Katalogen und Firmenmaterial auftauchte.
„Mobile“ Möbel
Die große Auswahl an Polstermöbeln ist nach wie vor ein wichtiger Schritt zur Schaffung von Modellen, die so individuell wie möglich gestaltet werden können. Die Sitze von Edra zielen immer auf eine universelle Nutzung und eine maximale Anpassungsfähigkeit an den jeweiligen Kontext ab. Dieser Ansatz ist schon seit 1987 in der Struktur und der Funktionalität zu bemerken. No Stop war ein Sitz mit zwei verstellbaren Rückenlehnen, die sich um 360° drehen ließen: Er konnte zwei Personen in formellen und informellen, geselligen oder anderen Situationen Platz bieten. Noch „mobilere“ Möbel waren der Andy von Stefano Becucci oder die Square und Hi Square von Massimo Morozzi, die mit ihren „Radfüßen“ leicht bewegt werden konnten.
Meister der Freiheit war schon immer Francesco Binfaré. Der hartnäckige Traum vom dynamischen Komfort, der sich jeder Situation anpasst, bringt Edra dem Autor näher. Es entstanden sofort innovative Projekte: L’Homme et La Famme (L’H/F) 1993, Angels 1996 und Flap 2000. Zusammen mit Binfaré schafft Edra seither lebendige Sitze, die mit ihrer eigenen Energie vibrieren. Eine Aussage, die in Edras Album 1 von 1995 aufgenommen wurde, lautet: „[...] man konnte seinen Raum so gestalten, wie man wollte, und dann wieder beliebig ändern. Und so wurde das Haus wirklich zum Theater des eigenen Lebens, denn die Kulissen waren schließlich austauschbar und nicht festgeschrieben, wie ein Urteil.“
Wahre Freiheit
Binfaré vertrat die Ansicht, dass die „wahre Freiheit“ nur erreicht werden kann, wenn die grundlegende Beschränkung des Sofas, nämlich eine feste Sitzfläche und Rückenlehne zu haben, aufgehoben wird. Er experimentierte mit der horizontalen Ebene und erfand einen Mechanismus, um die Rückenlehnen um die Sitze herum zu bewegen und umgekehrt. Die Lösung war das Patent für einen Hebel unter dem H/F, der die 90°/180°-Drehung ermöglichte. Flap hatte Rückenlehnen, die sich in eine multifunktionale, flache Struktur verwandeln und sich an den Sitz anpassen konnten. Dies waren Revolutionen in der Welt der Möbel, die den Weg für weitere Entwürfe frei gaben. Wie On the Rocks, das aus einer ebenso einfachen wie radikalen Idee entstand, nämlich der vollständigen Trennung der Rückenlehne vom Sitz. Ein Ergebnis, das dank der Vision von Binfarè und den Experimenten von Edra möglich wurde, die in jenen Jahren das Gellyfoam® entwickelte und patentierte, einen weichen Schaumstoff, der sich allen Körperhaltungen anpasst.
Das Abschaffen von Barrieren gab dem kreativen Impuls neuen Schwung, der zu einer Rekonstruktion oder besser gesagt, zu einer Neuinterpretation führte: zu einem neuen Standard. Unbeachtet der Wiederentdeckung der „traditionellen“ Typologie bestand die „wahre Freiheit“ in der Entscheidung über die Verwendung der Arm- und Rückenlehnen, die zur Konfiguration des Sofas gehörten und nicht mehr fest, sondern nach Belieben verstellbar waren. Seitdem ist das intelligente Kissen die Seele der Edra-Sofas und bietet den ultimativen Komfort.
Die Traumfabrik
Die Geschichte von Edra ist geprägt von einer Reihe von Erfindungen, Innovationen und Patenten. Binfarè erinnert sich an die Anfänge des Unternehmens: „Der Reiz von Edra lag darin, dass es das Abenteuer brauchte. Das war die grundlegende Vision. Und ich habe sie wahrgenommen“.
Edra war ein Labor und zunehmend auch eine technologische Plattform. Für viele Designer war es eine wahre Traumfabrik, in der ein Seil, PVC-Schläuche, Stoffreste oder ein Polycarbonatabguss zu Stühlen und Sesseln werden konnten.
Für die Gebrüder Campana zuerst und später für Jacopo Foggini war dies ein fruchtbarer Boden für ihre Materialinspirationen. Man brauchte weder Zeichnungen noch Pläne, nur Ideen, Gespräche und viele Prototypen. In diesen sechsunddreißig Jahren seiner Geschichte war Edra eine Autoren-Fabrik, in der man sich entfalten konnte. Vielen Ideen und Projekten wurde eine Stimme gegeben. Einige davon waren Übergangsprojekte, die den experimentellen, authentischen und forschenden Charakter des Unternehmens prägten. Andere sind noch heute Teil der Kollektion. Jedes Produkt war ein Teil eines größeren Mosaiks, das mit dem Wachstum des Unternehmens immer deutlicher wurde.
Das Element, das die Entstehung aller Edra-Modelle verbindet, ist die tiefgreifende Geschichte, die jeder dieser Erfahrungen zugrunde liegt. Der bereits erwähnte „Weg“ hat sich auf dieser Grundlage gebildet und ist das Leitmotiv aller neuen Schöpfungen. Wie Wurzeln, die weit reichen, tragen und nähren, so fließen auch diese Geschichten immer an ein und demselben Ort wieder zusammen: Edra.
Alessandro Angeletti Er arbeitet im Bereich Unternehmensforschung und -analyse bei Edra und schrieb seine Masterarbeit über eine Untersuchung zum Thema Design-Driven Innovation. Er hat einen Abschluss in Innovationsmanagement an der Scuola Superiore Sant’Anna di Pisa und Außenhandel an der Universität Ca’ Foscari in Venedig. Er pflegt seit jeher eine Leidenschaft für die Kunstdisziplinen, parallel zu seinem Interesse an Technologie und Geschäftsstrategien. |